curriculum vitae

WEISSE ELEMENTE

Ein Schweigen voller Möglichkeiten

Theo Steiner


Weiß Gott wie viele semantische Nuancen, Assoziationen, Konnotationen und Denotationen birgt „Weiß“ in sich. Das Weiß des Anfangs - die „tabula rasa“ des Neubeginns, das Blatt Papier, das beschrieben werden soll ( „pura charta“ ), der Untergrund, dem ( Pinsel-)Striche aufgesetzt werden sollen. Manchmal steht das Weiß aber auch am Ende – als Licht am Ende des Tunnels, als Farbe des Greisenhaares. Und in dem Sprichwort „ den Raben weißwaschen“ bezeichnet es, dass jemand etwas unternehmen will, was über seine Möglichkeiten geht. Solcherart wird es zur Farbe der Unmöglichkeit. Der gleichzeitig sprichwörtliche Reichtum der Farbe Weiß trifft ebenfalls zu und meint nicht nur, dass ihr Spektrum alle anderen Farben umfasst. Ein „ Schweigen (...) voller Möglichkeiten“ nannte Kandinsky es zurecht.

Im altdeutschen Traugemundslied heißt es, die Sonne sei weißer als der Schnee – blendender, heller, strahlender nämlich. Übertroffen wird sie in ihrer Leuchtkraft, so wusste noch der mystische Philosoph Jakob Böhme Anfang des 17. Jahrhunderts nur vom Feuer der inflammenden Liebe Gottes“. Das Weiß als Leuchtkraft, seine lichten Momente gewissermaßen, nehmen einen Großteil des Wortfelds ein. Doch wo viel Licht ist, ist auch viel Schatten. Vonnöten sind Worte, die dem „Weiß“ Kontra geben damit man es unterscheiden kann: „ Schwarz“ und „ Nacht“ vorzugsweise. Oder auch Konkurrenten wie etwa „ Blank“, das noch im Mittelhochdeutschen gleichwertig zur Farbwertbezeichnung dienen konnte. Mittlerweile muss dieser linguistische Widerpart sich mit glänzenden und blinkenden Dingen begnügen („ blanker Stahl“), während „ Weiß“ einen semantischen Siegeszug angetreten hat. Von himmlischen Dingen wie Wolke und Milchstraße über den metaphorischen weißen Fleck auf der Landkarte bis hin zur symbolisierten Reinheit und Unschuld markiert die Farbe Weiß immer den Ort, wohin unsere Sehnsüchte zielen. Weiß ist das Desideratum schlechthin, nicht nur die Farbe der Möglichkeiten, sondern die Farbe der Utopie. Deshalb muss sie auch Leere und Abwesenheit meinen – den offenen Raum, der Projektionen aufnehmen kann, und die Fläche, die Reflexionen produziert. In einem wörtlichen Sinn reflektiert sie zwar das auf sie projizierte Licht, macht es zum Widerschein. Doch im übertragenen Sinn lädt das Weiß zu gedanklichem Reflektieren, zu Überlegungen ein. Anders gesagt: Weiß ist ein Angebot zum Hinschauen und zum Nachdenken. Nehmen wir das Angebot an.

Auf einer metallisch grau glänzenden, durchscheinenden Ebene schieben sich Formationen übereinander, überlagern und durchdringen sich. Linien und Flächen, rechte und spitze Winkel. Aus einfachen Verhältnissen entwickeln sich komplexe Bezüge. Da wo eine weiße Linie und eine weiße Fläche sich überlappen, bilden sie eine Schnittmenge von höherer Intensität. Die Pigmentkoalition lässt das Weiß an diesen Stellen heller leuchten. Gleichzeitig – wir erinnern uns an die Licht - Schatten - Implikation werden dabei einzelne Areale abgedunkelt, sie treten in den Hintergrund. Eine transparente Schicht schiebt sich über die andere, wie zarte Eisflächen, hauchdünne gefrorene Wasserfilme, einer auf den anderen gestapelt. Und jede der Flächen ist ein Zeichenträger. Die aufgetragenen flachen Elemente formieren sich jeweils auf Transparentpapieren, welche über- oder hintereinander an die Wand montiert sind. Sie sind Lagepläne, wie es die herkömmliche Funktion dieser Art von Papier nahelegt. Die weißen Flecken auf diesen metaphorischen Landkarten verdecken sich gegenseitig, machen sich die Sichtbarkeit streitig. Gleichzeitig machen sie so auf sich aufmerksam. Der letztendliche Effekt der wechselseitigen Kaschierung ist, dass sich alle gegenseitig ins Rampenlicht rücken – teilweise wird die Szenerie dabei noch von hinten beleuchtet, vom Bühnenhintergrund gewissermaßen.

So kommen wir dazu, die Bilder als Aufzeichnungen örtlicher Verhältnisse zu lesen. Das Topographische wird zusätzlich betont durch die beigefügten Photographien. Scheinbar zeigen sie Wandstrukturen, unterschiedlich gespachtelte Felder im Verputz einer Architektur, die nur in Detailaufnahmen sichtbar wird. Wir wissen nicht: handelt es sich um Wände, Decken oder Böden, die durch abwechselnde Oberflächengestaltung in verschiedene Segmente unterteilt werden? Und sind diese Teilflächen von besonderer Signifikanz, welche Bedeutung kommt ihnen zu ? Wir sehen andere Photographien, die scheinbar schlammiges Land zeigen, nachdem eine Überflutung dem Boden eine spezielle nautische Struktur aufgeprägt hat. Das Wasser ist abgeflossen und hat runzlige Furchen in die Erde gegraben, alles Leichte weggeschwemmt. Einige dieser Bilder zeigen im Stile der Luftaufnahme Fahrspuren durch solche Strukturen, oft liegen diese Durchfurchungen quer zu der Linearität des Musters, das wir als Boden oder Untergrund auffassen. Alle diese photographischen Bilder sind Makrovergrößerungen von Details aus Antonia Hinterreitners Gemälden. Die schlammig geäderten, organischen Strukturen sind phänotypisch für die mit einer Rollwalze aufgetragene Farbe. Und die gestrichelten Formationen wie übereinandergestapelte Linien wurden durch die parallel laufenden Pinselhaare und feine Kämme ins feuchte Malmaterial eingraviert, wie zu Erinnerung in den nachgiebigen Grund eingegraben. Die angeblichen Fahrspuren sind mit dem Pinselstiel eingekratzte leicht gekurvte Linien. Sie krümmen sich über das Bildfeld und bilden, wie der Titel der Serie mit leichtem Augenzwinkern verrät, die knappste Form der Bewegung. Von Knappheit ist da natürlich keine Spur, zeigt doch das sensenartig Ausholende der präzisen Linienführung gerade die Großzügigkeit der Eleganz.

Die Farbe Weiß hat in der Kunstwelt bereits eine gewisse Karriere gemacht. 1918 malte Kasimir Malewitsch sein Weißes Quadrat auf weißem Grund. Damit führte er die Farbigkeit der Malerei an einen Endpunkt kurz nachdem Vincent van Gogh und die Impressionisten gerade die Farben zum obersten Wert und ersten Thema der Malerei gemacht hatten. Da Weiß die Unendlichkeit darstelle, so Malewitsch, überwinde es nicht nur die gegenständliche Welt, sondern auch die Farbe als Qualität eines bestimmten Weltausschnitts oder als intrinsischen Wert. Zweiter Schritt der Farbe Weiß auf ihrer Karriereleiter: Robert Rauschenberg hat in den fünfziger Jahren die Wandfarbe auf die künstlerische Spezialfläche Leinwand auf Keilrahmen appliziert (White Painting). Was normalerweise Hintergrund für die Malerei ist, in einem streng wörtlichen Sinn hinter ihr liegt, die Wandfarbe nämlich, ist in diesen Arbeiten von seinem angestammten Platz abgerückt, hat sich in den Vordergrund geschoben und ist an die Stelle der Kunst getreten, ja ist selbst Kunst geworden. Und um die Banalität oder Alltäglichkeit des Malmaterials zu betonen, fügt Rauschenberg die Anweisung hinzu, das Gemälde sei, wenn es durch Staub oder was immer verschmutzt ist, wieder frisch mit Wandfarbe zu überpinseln, um die Reinheit und Unversehrtheit wiederherzustellen. Das ironisiert die Restaurierung als die kosmetische Operation der Malerei. Mit diesem Beispiel holen wir eigentlich schon aus zum dritten Schritt, den Sprung in die Dreidimensionalität. Beim Innendekorationsmittel Wandfarbe ist ja der Ausstellungsraum als solcher schon Ansatzweise thematisiert. Die protypische modernistische Galerie als weißgetünchter Behälter zur Präsentation von Kunst analysierte wegweisend Brian O`Doherty mit jenen Aufsätzen von 1976, die er zehn Jahre später unter dem Titel „ Inside the White Cube “ veröffentlichte. Das Schlagwort vom Weißen Würfel fasst seither paradigmatisch zusammen, was alles die architekturale Infrastruktur einer Ausstellungsinstitution zur Bedeutung von Kunstwerken beitragen kann. Im Gefolge dieser Diskussion hat James Lee Byars Anfang der neunziger Jahre in Stuttgart das Weiß zur visuellen Generalqualität einer ganzen Ausstellung gemacht, indem er in seiner raumfüllenden Installation nicht nur die Wände und die Decke, sondern auch den Boden und sämtliche anderen Objekte in dieser Farbe hielt. Zu guter letzt forderte er sogar die Vernissagegäste auf, sich ebenso wie der Künstler vollständig Weiß zu kleiden. Damit trieb er die Unberührtheitsphantasien der Kunstwelt augenfällig auf die Spitze und machte alle Ausstellungsbesucher zu potenziellen Schmutzfinken: Dies nicht nur wegen des mitgebrachten Schmutzes, der sich von den Schuhsohlen auf den vom Kunstwerk einverleibten Fußboden abreiben konnte, sondern auch schon aufgrund der womöglich abweichenden ( nämlich nicht-weißen) Farbgebung der Bekleidung. Ein Mensch mit Ambitionen zur Kunstrezeption wird so in einem nicht bloß wörtlichen, sondern sogar in dem viel perfideren theoretischen Sinn zu einem Schmutzpartikel, zu einem Eindringling, der das originale Kunstwerk zerstört oder zu aller mindest stört.

Karin Sander hat nun, Karriereschritt N° 4, die matte weiße Wandfarbe des jeweiligen Ausstellungsraums ebenfalls zum Werkstoff ihrer Arbeiten gemacht, indem sie Wandstücke in Ausstellungsräumen so lange schliff und glatt polierte, bis sie zu glänzender Oberfläche wurden und ihr Vis-à-vis nun schemenhaft widerspiegeln. Ohne der weißen Farbe etwas hinzutun, ohne tönende Beimengung von Rot beispielsweise, bringt sie so die Farbigkeit der Umgebung wieder ins weiße Kunstwerk hinein: den unter Umständen blauen Himmel vor dem Galeriefenster oder die ( wieder einmal) nicht – weiß gekleideten Galeriebesucher. Nach dem die Farbe Weiß durch ihre Omnipräsenz im sprichwörtlichen „ White Cube“ inflationär gebraucht wurde, hat Antonia Hinterreitner ihr wieder Einschränkung auferlegt. Die Farbe macht sich nun selbst Konkurrenz und durch die Überlagerungen kommt es zu Verdunkelungen, das heißt: die logische Notwendigkeit zur Abgrenzung kommt zum Ausdruck, es geht um Unterschiede und Gegensätze. Die Licht - Schatten - Gleichung, die Schwarz – Weiß Malerei. So malt sie hell und Dunkel aus einem Tiegel. Malewitsch hat sich mit Weißes Quadrat auf weißem Grund von seiner fundamentalen Grundform, dem (schwarzen) Quadrat gelöst und es in einem einheitlich weißen Bildfeld aufgehen lassen. Doch die Weiße ist eben nicht nur Ende und Abschluss, sondern auch Anfang, in dem Sinn, dass sie eben auch ein neues Quadrat in neuer Sichtbarkeit möglich macht. Die Form hebt sich nun durch ihre Textur vom gleichfarbigen Umfeld ab, sie zeichnet sich durch ihre Struktur aus. Antonia Hinterreitner nimmt das Weiß ebenso als Anfang und lässt die Formgebung aus dem einheitlichen Farbbestand heraus stattfinden. Wie sich Münchhausen am eigenen Zopf aus dem Sumpf zieht, so müssen sich gewissermaßen die Formen aus dem homogenen Malgrund selbst erheben: Sichtbar werden sie nämlich erst dadurch, dass sie sich in der Reliefierung oder in ihrer relativen Höhe gegenüber der Umgebung abheben. Schatten, die in die Vertiefung der Malfläche fallen, machen es den Betrachtern erst möglich, die vorhandenen Einzelstrukturen im Sinne der Gestaltwahrnehmung zu kompakten Gebilden zusammenzusetzen. Dabei greift die Malerin allerdings nicht wie Malewitsch mit seinem Quadrat auf ein fixes und vorformuliertes Vokabular zurück, sondern sie erarbeitet die Formen tatsächlich immer erst konkret und aus dem jeweiligen Bildgrund. Gewisse Momente kehren dennoch wieder: Sowohl die Weißen Elemente wie auch die Leinwandbilder formieren sich zu Serien. Und der einzelne Bilder – Zyklus zeigt dabei immer wieder Steigerungen der verwendeten Elemente: entweder addieren sich immer mehr Transparentpapiere bis das Weiß opak und das Flächige andeutungsweise räumlich wird oder ein geometrisches Element wird häufiger in das Bildfeld gesetzt, so dass eine Linie auf ihre Schwesternformen trifft. Gemäß dem titelgebenden kategorischen „ Die Linie ist die knappste Form der Bewegung“, das sich salomonisch auf jede einzelne Verbindung zwischen zwei Punkten beziehen lässt, stehen diese Liniaturen abwartend im Bildfeld und taxieren sich gelassen.

Katalog: WEISSE ELEMENTE
Theo Steiner: Ein Schweigen voller Möglichkeiten. Un silence plein de possibilites. A silence of possibilities.
in: Antonia Hinterreitner. Weiße Elemente. Fotos Andreas Hauch, Text Theo Steiner. Galerie Peter Lindner (ed.) Wien 1996

ISBN 3900973172, 9783900973179